Zum Verständnis von Lebenswelt, Ideologie und Mentalität
In Jugend- und Popkulturen haben sich Lebenswelten herausgebildet, in denen Fragmente rechter Ideologien in unterschiedlicher Betonung und in unterschiedlicher Qualität – mal implizit, mal explizit – vertreten und verbreitet werden. Dabei sind inhaltliche und strukturelle Schnittstellen zwischen vermeintlich unpolitischen, rechten und extrem rechten Individuen und Kollektiven zu erkennen.
Anstelle des für dieses Phänomen populären Begriffs »Grauzone« haben wir uns ergänzend für die genauere Bezeichnung »rechte (jugendliche) Lebenswelten« entschieden – diese verwenden wir synonym. Im Gegensatz zum Begriff »Grauzone« nimmt der Begriff »rechte Lebenswelten« die fraglichen Lebenswelten an sich ernster, denn er reduziert sie nicht (wie der Begriff »Grauzone« suggeriert) auf uneindeutige Vorfelder der eindeutigen extrem rechten und neonazistischen Szenen. Weiter vermittelt der Singular in der populären Bezeichnung »Grauzone« den Eindruck, dass es sich um eine homogene oder gar Spektren übergreifende Szene handeln würde. Dies trifft jedoch nicht zu, da eine Vielfalt bis hin zur Abgrenzung zwischen verschiedenen rechten Lebenswelten festzustellen ist. Ein darüber hinausgehendes Problem besteht darin, dass der Begriff »Grauzone« im Allgemeinen durch die Grauzone im juristischen Sinne geprägt ist, die den Grenzbereich zwischen Legalität und Illegalität beschreibt. Die Übertragung des Grauzonebegriffs auf Jugend- und Popkulturen löst deswegen mitunter den Impuls aus, die Nähe des betrachteten Problemfeldes zur Rechten über strafbare Inhalte zu bestimmen.
Wir sprechen von rechten (jugendlichen) Lebenswelten, um zu unterstreichen, dass in diesen Lebenswelten rechte Einstellungen und Verhaltensweisen ausgeprägt sind. Weiter haben wir uns für die Schreibweise im Plural entschieden, um die bestehende Vielfalt in diesen Lebenswelten zu betonen. Im Musikbereich finden sich rechte Lebenswelten in vielen Ausprägungen wieder. Deutschrock, Metal, Hardcore oder HipHop sind eigenständige Szenen, beziehungsweise Stile, sie sind innerhalb der Popkulturen angesiedelte Jugendkulturen und stellen für partizipierende Jugendliche und junge Erwachsene verschiedene lebensweltliche Angebote bereit. Nicht die Szenen an sich sind dabei rechts, sondern innerhalb dieser Szenen existieren entsprechend aufgeladene Teilräume, die sich meist um bestimmte Bands, beziehungsweise um Bands mit einem bestimmten Image, bilden/konzentrieren.
Ziel und Vorgehen
Bisher ist eine Vielzahl von zum Teil gut recherchierten Artikeln zu einzelnen Bands und Rappern erschienen, die auf diverse problematische Inhalte in deren Texten hinweisen. Allerdings gibt es bisher keinen Versuch, diese problematischen Inhalte in ein adäquates theoretisches Gerüst einzuordnen, sondern es wird meist versucht, das Problem mit bisherigen Rechtsextremismustheorien zu fassen. Die Versuche stoßen schnell an Grenzen, da die dort vertretenen Inhalte weder extrem, noch verboten sind.
Wir haben verschiedenes Datenmaterial aus diesen Lebenswelten untersucht und teilnehmende Beobachtungen an verschiedenen Orten durchgeführt. Im Fokus unserer ersten Analyse standen zunächst die rechten Lebenswelten im Deutschrock, später haben wir unsere Untersuchung noch auf den HipHop ausgeweitet. Dafür haben wir Datenmaterial aus diesen rechten Lebenswelten inhaltlich analysiert, welches sich vor allem auf Fanzines, Soziale Netzwerke, Liedtexte, Biographien von und Interviews mit Bands erstreckte. Darüber hinaus haben wir uns die Ästhetik in diesen beiden rechten musikalischen Lebenswelten mittels Bild- und Videoanalyse (Selbstdarstellungen, Portraits und Videos von Bands sowie Bilder von Partys und Konzerten) auseinandergesetzt. Hinzu kamen teilnehmende Beobachtungen von Deutschrockpartys und -konzerten, die den rechten Lebenswelten zuzurechnen sind.
In unserem Projekt sehen wir uns die rechten Lebenswelten genauer an. Unsere zentralen Fragen sind: Welche antiegalitären und antiemanzipatorischen Potenziale sind in diesen Teilräumen im Kultur- und Freizeitbereich zu finden? Was sind die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Personen in diesen Räumen? Ausgangspunkt für unsere Arbeit sind Phänomene in Musik- und Fußballfankulturen. Wir haben ausgehend von unseren Erkenntnissen für das Phänomen von rechten musikalischen Lebenswelten ein Theoriegerüst entwickelt, das wir zur Diskussion stellen.
Um dieses Theoriegerüst plastischer zu machen, haben wir uns vor allem auf Aussagen (etwa aus Interviews) und Songtexte der Bands und Rapper innerhalb der rechten Lebenswelten gestützt. Aufgrund ihrer Popularität erschienen uns die Deutschrock-Bands Böhse Onkelz und Frei.Wild sowie die Berliner Rapper Bushido und Fler besonders relevant. Um zu zeigen, dass sich diese Phänomene auch in anderen Szenen wiederfinden, haben wir auch auf einzelne Oi-Bands zurückgegriffen.
Begriffe und Modelle: Lebenswelten, Ideologien und Mentalitäten
Zunächst wollen wir ein Begriffsinstrumentarium und Modelle vorstellen, mithilfe derer wir uns dem Phänomen der rechten jugendlichen Lebenswelten annähern. Wir haben uns entschieden, die Begriffe Lebenswelten, Ideologien und Mentalität zu nutzen, um zu unterstreichen, dass es sich um ein individuelles wie auch kollektives Muster von Denken, Haltungen, Orientierungen und Handlungen, als auch um eine selbst konstruierte Alltags-, Freizeit- und Erlebniswelt handelt.
Zum Verständnis von Lebenswelten
Lebenswelt aus der Perspektive von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist das Verständnis von Lebenswelt in der Regel stark affektiv. Auf die an sie gerichtete Frage, was sie unter ihrer Lebenswelt verstehen, kommen fast immer spontane Antworten wie: »mit meinen Freunden treffen, was zusammen unternehmen«, »da, wo ich mich wohl fühle«, »da, wo mir niemand reinredet«, aber auch: »da, wo mir niemand blöde Fragen stellt«. In ihrem Verständnis reduziert sich die Lebenswelt auf das, was als »soziale Heimat« verstanden werden kann: die sozialen Zusammenhänge sowie Freizeit- und Erlebnisräume, in denen sich die Person bewegt und vor allem: in denen das Individuum nicht in Frage gestellt wird und sich nicht selbst in Frage stellen muss. Auffallend ist, dass die »eigene Lebenswelt« zum Teil deutlich von der »Umwelt« abgegrenzt wird. Umwelt wird als eine Notwendigkeit, mitunter auch als Zwang wahrgenommen, als etwas, was sich der Mensch nicht aussuchen kann, zu der ein sehr funktionales Verhältnis gepflegt wird. Aus Sicht der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gelten Lebenswelten als Räume und soziale Zusammenhänge, in denen sich das Individuum nicht distanzieren muss und meist auch nicht will, und die weitaus stärker von einem »Wir«-Gefühl getragen werden. Oft wird die so definierte »eigene« Lebenswelt gegen die als feindlich empfundene Umwelt in Stellung gebracht.
Lebenswelt und kleine soziale Lebenswelt
Als »Lebenswelt« verstehen wir die Sicht von Menschen auf die Welt als Ganzes, wie sie selbstverständlich erfahren und durch subjektive Bewusstseinsleistungen hergestellt wird: Die Lebenswelt ist die Gesamtheit von Wirklichkeiten, unter denen sich der Alltag auszeichnet. Jedes Individuum hat eine eigene, einmalige Lebenswelt, deren Gesamterscheinung auch auf individuellen Konstruktionsleistungen beruht. Unter ähnlichen äußeren objektiven Bedingungen neigen Individuen zur Herausbildung von ähnlichen Lebenswelten.
Wir folgen weiterhin den Soziolog*innen Roland Hitzler und Anne Honer, die beschrieben, wie sich die individuelle Lebenswelt aus einem Patchwork von »kleinen sozialen Lebenswelten« zusammensetzt.1 Gemeint sind damit »kleine soziale Formationen« in der Gesellschaft, innerhalb derer das Individuum mit »jeweils verschiedenen anderen zusammen durchaus verschiedene »Zwecke« verfolgt«. Das Individuum kann seine Partizipation an den teilzeitigen »kleinen sozialen Lebenswelten« in manchen Fällen nur beschränkt selbst bestimmen (etwa in den kleinen sozialen Lebenswelten Schule oder Familie), in anderen Fällen hat es weitreichende Mitbestimmungsmöglichkeiten (etwa im Freundeskreis oder als Teil einer Szene). Die einzelnen kleinen sozialen Lebenswelten nehmen bei der Formung der gesamten Lebenswelt eines Individuums aufeinander Einfluss. Ein Mindestmaß an Konsistenz unter den kleinen sozialen Lebenswelten ist nötig (es ist nicht möglich Gemeindemitglied in einer christlichen Kirche und in einer Moschee sein), gewisse Widersprüchlichkeiten kann das Individuum jedoch integrieren (es kann gleichzeitig in einer Heavy-Metal-Band spielen und Kirchen-Gemeindemitglied sein).
Wenn wir von Lebenswelten schreiben, meinen wir damit in der Regel die kleinen sozialen Lebenswelten. In diesen Teilzeit-Lebenswelten kommt das Individuum mit anderen zusammen und partizipiert mit ihnen gemeinsam, mit ähnlichen aber nicht unbedingt gleichen Zielen, Hintergründen und Voraussetzungen. Diese Lebenswelten spiegeln sich in jugendlichen Freundeskreisen, aber auch in Jugend- und Popkulturen und deren Infrastrukturen wider: Events, Treffpunkte und soziale Netzwerke. Dort gelten grundlegende Regeln und Routinen, und es sind Eigen- und Besonderheiten sowie Praxen und Riten zu finden, welche für das Individuum widerum Orientierungs- und Deutungsmuster darstellen. Die lebensweltlichen Räume bringen eine eigene Sprache, ein eigenes Reservoir an Codes und Symbolen hervor, das als Identifikationsmerkmale, als Ausweis der Zugehörigkeit für die Individuen fungiert.
Rechte Lebenswelt
In den bei uns im Fokus stehenden sozialen Strukturen – Szenen, Jugendkulturen, Fangruppen und Cliquen – sind antiegalitäre Einstellungen, sind Ideologien der Ungleichheit in einem Maß zu finden, das über den gesellschaftlichen Durchschnitt hinausreicht. Sie werden in diesen Räumen nicht nur reproduziert, sondern sind in einem Mindestmaß auch formgebend, weil sie die Gesamterscheinung der Struktur mitprägen. Antiegalitäre Einstellungen fassen wir abgekürzt als politisch »rechts« zusammen und sprechen darum von »rechten kleinen sozialen Lebenswelten«, die wir als »rechte Lebenswelten« abkürzen.
Inwieweit jedes Individuum, das an einem solchen lebensweltlichen Raum partizipiert, solche Ideologien selbst vertritt, ist dabei nicht unbedingt entscheidend: Ein Konzert mit einer rassistischen Oi-Band kann eine Erscheinung rechter Lebenswelten sein, auch wenn dort viele Gäste zugegen sind, die keine rassistischen Positionen vertreten wollen, sondern beispielsweise nur mit ihren Bekannten den Spaß an der ruppigen Musik zelebrieren möchten. Umgekehrt gilt entsprechend auch, dass nicht jedes Events zur Erscheinung rechter Lebenswelt gerät, sobald dort einige Rechte anwesend sind.
Zum Verständnis von Ideologie und Mentalität
Es ist nicht einfach, die von uns untersuchten rechten Lebenswelten mit treffenden Begriffen zu beschreiben. Wir finden dort politische Ansichten, Überzeugungen und Einstellungsmuster, die politische Ideologien transportieren und manifestieren. Den kollektiven Zusammenhalt der Szenen besorgt indes keine politische Identität, sondern das, was in den Szenen als »Lebensgefühl« benannt wird und sich wahlweise als Lebensstil, Lebensart, Weltsicht, Geisteshaltung, Denkweise oder Mentalität beschreiben lässt. Wir haben uns entschlossen, primär die Begriffe Ideologie und Mentalität zu nutzen. Wir wollen deutlich machen, dass sich die dort vorherrschenden Einstellungen stark aus rechten Ideologien speisen, wenngleich sie diese oft nur fragmentiert wiedergeben. Der Begriff Mentalität stellt heraus, dass diese Einstellungen an Verhaltensmustern geknüpft sind, stark affektiv besetzt sind und als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Die politische Ideologie
Es gibt viele Verständnisse und Definitionen und entsprechende Diskussionen darüber, was eine (politische) Ideologie überhaupt ist, welche Funktionen sie hat und wie sie wirkt. »Ideologie« wird neutral und wertfrei verwendet, oder aber positiv oder negativ besetzt.
Weitgehend unbestritten ist, eine politische Ideologie als ein theoretisches und rationales Konzept zu begreifen, das auf einem politischen Bewusstsein und einer politischen Überzeugung basiert. Hegel, Marx und Georg Lukàcs prägten, so schreibt der Kultur- und Literaturtheoretiker Terry Eagleton, die ideologiekritische Ansicht, in der Ideologie als ein Mittel verstanden wird, mit dem Herrschaftsverhältnisse legitimiert und aufrechterhalten werden. Eagleton benennt die Strategien zur Durchsetzung einer politischen Ideologie folgendermaßen:
- die Propagierung von Werten und Überzeugungen,
- das Selbstverständlichmachen dieser Werte und Überzeugungen,
- ihre Universalisierung,
- die Verunglimpfung konkurrierender Überzeugungen,
- die Ausschließung (Verbot, Indizierung) rivalisierender Denkansätze,
- die Verschleierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Mystifizierung).2
Herrschaftsverhältnisse existieren nicht nur auf der Ebene der »realpolitischen Macht«, beispielsweise einer Regierung. Sondern sie spiegeln sich als Dominanzverhalten in nahezu allen sozialen Einheiten wieder. Auch Eagleton plädiert dafür, den Ideologiebegriff dahingehend zu erweitern.
In den von uns untersuchten rechten Lebenswelten finden sich fast alle Elemente wieder, die Eagleton als Strategien zur Durchsetzung einer politischen Ideologie benennt: Die beständige Propagierung von Werten und Überzeugungen, die Verunglimpfung konkurrierender Überzeugungen oder der Versuch der Ausschließung rivalisierender Denkansätze. Auch werden dort Ideologien vertreten, wie zum Beispiel Nationalismus oder Ungleichheitsideologien, die einfache Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Probleme anbieten und der Verschleierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit dienen.
Doch findet in den Szenen unseres Untersuchungsfeldes praktisch keine Auseinandersetzung darüber statt, was Ideologie eigentlich ist. Ideologie wird als eine rigide Ausdrucksform von Politik begriffen und pauschal abgelehnt. Es herrscht das Verständnis vor, unpolitisch beziehungsweise antipolitisch zu sein. Als verbindendes Element wird ein »Lebensgefühl« angeführt, das gegen alles Politische und Ideologische in Stellung gebracht wird. An Stelle des theoretischen und rationalen (ideologischen, politischen) Konzeptes steht das angeblich emotionale Empfinden und Handeln, das gleichwohl für sich die unbedingte Wahrheit beansprucht.
Es existiert in den von uns untersuchten Lebenswelten kein Bewusstsein darüber, Ideologien zu vertreten und politisch oder gar strategisch zu handeln. Die Werte und Überzeugungen, die vertreten werden, sind als »ganz normal« oder »ganz natürlich« verinnerlicht und werden als allgemeingültig und selbstverständlich vorausgesetzt. Was unter dem Label des Politischen noch Gegenstand von Debatten ist und mitunter polarisierend wirkt, ist der Reflexion und Verhandelbarkeit weitgehend entzogen.
Mentalität als Instrument der Analyse
Der Rapper Bushido bringt es auf den Punkt:
»Insofern beschreibe ich hier keine politische Meinung, sondern einfach nur eine Gefühlslage, die den schwäbischen Bauarbeiter wie den Berliner Bierproll oder den fränkischen Ochsenzüchter, den Fabrikanten und den Universitätsprofessor gleichermaßen betrifft, und so fände ich die Tatsache, dass eines meiner Kinder homosexuell wäre, erst einmal richtig scheiße.« 3
Die Ideologie, in diesem Fall Heterosexismus, stellt den Inhalt dieser Aussage. Das, was Bushido als »Gefühlslage« bezeichnet, ist die Form, mit der die Ideologie ausgedrückt wird. Diese lässt sich in unserem Untersuchungsfeld mit dem Begriff der Mentalität fassen.
Unter Mentalität wird eine Geisteshaltung verstanden, die individuell und kollektiv verinnerlicht ist. Für den Kulturanthropologen Heinz Schilling setzt sich Mentalität aus verschiedenen Kennzeichen zusammen.
Mentalität
- ist ein System kognitiver Muster von Selbstverständlichkeiten,
- wird ohne nachzudenken aktiviert,
- wirkt gruppenspezifisch und gruppenbindend,
- hat schwach verbalisierte Inhalte,
- hat starke affektive Besetzung,
- steht nicht zur Disposition.4
Mentalität wirkt demnach vor allem innerhalb einer Gruppe, die dieselbe Mentalität teilt. Schilling betont dabei verschiedene Aspekte, die in den von uns untersuchten rechten Lebenswelten zentrale Bedeutung haben: kollektive Denk- und Verhaltensmuster, die als selbstverständlich gelten, die jederzeit abrufbar und stark affektiv besetzt sind und die vor allem nicht zur Disposition stehen.
In dieser wissenschaftlichen Definition bietet uns der Begriff Mentalität ein passendes Instrument zur Analyse und Beschreibung unseres Untersuchungsfeldes. Das allgemeine Verständnis von Mentalität ist hingegen kritisch zu betrachten. »Mentalität« dient häufig als Begriff der Zuschreibung und Festlegung von Verhaltensmustern für eine bestimmte Gruppe. Dies geht mit deren Stereotypisierung einher und wird insbesondere problematisch, wenn regionale, ethnische oder nationale Gruppen konstruiert werden. Dabei funktioniert »Mentalität« als Fremdzuschreibung (»die sind eben so«) und als Selbstzuschreibung (»wir sind eben so«). Von diesem Verständnis von Mentalität grenzen wir uns ab.
Brüche und Kontinuitäten
Eine dezidiert politische Ideologie lässt sich in der Regel individuell wesentlich einfacher in Frage stellen als die (verinnerlichte) Mentalität, deren Änderung eine tief greifende Reflektion erfordert. Diesem Aspekt kommt beispielsweise in der Bewertung von Ausstiegs-Prozessen aus der Neonaziszene eine besondere Bedeutung zu. Was in Biographien ehemaliger Neonazis häufig als Ausstieg beschrieben wird, meint die Entfremdung von extrem rechten Gruppen und Organisationen, einhergehend mit der Abkehr von extrem rechten Ideologien und der individuellen Aufgabe des »politischen Kampfes«. Viele Aussteiger*innen begreifen ihre »aktive Zeit« als Neonazis als eine Phase der Verirrung oder des Über-die-Stränge-Schlagens, in der man »falsch« oder auch nur »zu radikal« gedacht und gehandelt hat. Die Mentalität bleibt beim Ausstieg, bzw. bei dem, was als solcher verstanden und gesellschaftlich anerkannt wird, oft wenig berührt und wird an »anderen« Orten und in »anderen« Szenen – beispielsweise in Deutschrock-Cliquen, Rockergruppen, Fußballfanszenen, Vereinen oder Familie – weiter gelebt. Wer sich vom völkisch-nationalistischen Denken abwendet, jedoch seine*ihre Chauvinismen und Herrschaftsansprüche unter dem Label des (Lokal-)Patriotismus weiter vertritt, der*die mag ein Ideologem als falsch erkannt haben, nicht aber die Mentalität, die dieses hat entstehen lassen und immer weiter produzieren wird.
Zum Verhältnis von Lebenswelten, Ideologien und Mentalitäten
Die rechten Lebenswelten wirken als soziale Vermittlungsebene rechter Ideologien und Mentalitäten. Sie unterliegen sozialer Dynamik, bieten Erlebnis, erzeugen gemeinschaftliche Bindungen, verschaffen (gemeinschaftliche) Bestätigung. Sie transportieren, integrieren und stabilisieren Mentalitäten und Ideologien in soziale(n) Räume(n) und Gruppen. Dies meint einerseits private Räume, die einem klar umrissenen Kreis exklusiv zur Verfügung stehen und in denen rechte Mentalitäten eine oft stringente Umsetzung erfahren, andererseits öffentliche Räume (beispielsweise bestimmte Konzerte oder Sportereignisse), in denen diese zumindest partiell gelebt werden können.
So bedingen und erzeugen sich rechte Lebenswelten, Ideologien und Mentalitäten gegenseitig, sie formen gemeinsam den individuellen und kollektiven »Way of Life«.
1 Roland Hitzler, Anne Honer, Qualitative Verfahren zur Lebensweltanalyse, 1991, URL: http://www.hitzler-soziologie.de/pdf/hitzler_1991a.pdf; Roland Hitzler, Anne Honer, Lebenswelt – Milieu – Situation: terminologische Vorschläge zur theoretischen Verständigung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 36 (1985), S. 56–74, http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/5546/ssoar-kzfss-1984-1-hitzler_et_al-lebenswelt_-_milieu_-_situation.pdf?sequence=1, Roland Hitzler, Welten erkunden. Soziologie als (eine Art) Ethnologie der eigenen Gesellschaft, in: Soziale Welt, 4/1999, http://www.qualitative-forschung.de/
fqs-supplement/members/Hitzler/hitzler-sw-d.html
2 Terry Eagleton, Ideologie. Eine Einführung, Weimar, 2000, S. 12.
3 Anis Mohammed Youssef Ferchichi, Marcus Staiger, Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht, München 2013, S. 219.
4 Heinz Schilling, Kleinbürger. Mentalität und Lebensstil, Frankfurt/Main 2003, S. 78.
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